Landesliga, 14.12.2014: Lasker Steglitz gegen Zita 1
Eine Kurzgeschichte aus der Ich-Perspektive des dritten Bretts
Um neun Uhr waren wir zu zweit, Koko und ich, und selbst am Horizont war kein weiterer Spandauer zu sehen; die Sache ließ sich düster an wie jener Sonntag kurz vor Weihnachten überhaupt. Im Brunnenhaus an der Albrechtstraße lungerten derweil siegestrunkene Laskeraner und einige Senioren in Bademänteln durch die Gänge; die Zeiger der Uhren rückten vor und vor, wie der h-Bauer deines Gegners, wenn er deinem König an den Kragen will. Aber die Geschichte wäre jetzt schon zuende, wenn die anderen nicht doch noch aufgetaucht wären, ist ja klar, und deshalb ging es jetzt weiter mit Begrüßungen, Handys abstellen und Figuren zurechtrücken.
Und dann schoben sich die üblichen BMM-Landesliga-Eröffnungen auf die Bretter, Damengambits, Englisch in verschiedenen Stadien der Feigheit vor dem Feind, langwierige Königsinder und symmetrische Königsbauer-Kindereien. Alles im grünen Bereich halten, damit man vom Mannschaftsleiter nicht streng angeschaut wird.
Außer Marko, der links neben mir zusammen mit seinem Gegner eine Position fabrizierte, als wolle er zeigen, wie schnell man aus traditionellem Schach eine 960-Abart machen kann, mit einem Bauern auf d3 (einem schwarzen!!) und auch ansonsten zerwürfeltem Kräfteverhältnis. Diese Partie musste ich aus 70 cm Entfernung miterleben, und ich sage euch, sie kostete mich mehr Nerven als meine eigene Partie.
Im Gang saß mittlerweile eine Oma mit Locken, die ihre Hand auf einen Stock stützte und mit schräg gestelltem Kopf nach den Leuten schaute, die dies sonderbare Spiel spielten. Carsten nahm seinem Gegner zwar keinen Bauern ab, rettete aber einen Läufer, den der auf der anderen Seite des Brettes eigentlich dem Untergang geweiht hatte, und machte die weiße Stellung kaputt. Nachdem Matthias in grottenschlechter Stellung Remis angeboten bekommen, dies auch schnell notariell festgeschrieben hatte und fortgeeilt war, um den dritten Advent mit seinen bezaubernden Töchtern zu feiern, stand es praktisch 1,5 : 0,5 für uns; da schau her. Eduardo hatte übrigens per Bauerngabel zwei Leichtfiguren gegen einen Turm verloren; ob die Kompensation reichte, war mir en passant (en passant heißt im Vorübergehen) nicht ganz klar. Und die Sonne schien nicht zu den Fenstern herein, wie der Schiedsrichter vor dem Match gefürchtet hatte; denn die zeigten erstens nach Norden und zweitens schien die Sonne auch gar nicht, auch nicht von Süden.
Während Koko ein Slawisch wie aus den mittleren Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts spielte und mit einem weißen Läufer alles dominierte, was herumlaufen wollte, geriet Uwe rechts neben mir ausgangs einer Pirc-Eröffnung mit geöffneter d-Linie in eine miese Endspielruine, in der ein schwarzer Turm sich stundenlang wie ein Sanitäter um einen kleinen c-Bauern kümmern musste. Das tat mir richtig weh, und ich hätte gern auf dem Stuhl des Weißen gesessen.
Patrick hatte sich in all diesen Stunden darum bemüht, die sehr lahme und zahme Eröffnungsbehandlung des Schwarzen zu widerlegen, aber irgendwie brachten all die Kombinationen, die er variationsreich in seinem Kopf herumwälzte, letztlich nichts ein, sie kosteten nur Bedenkzeit.
Und was tat ich die ganze Zeit? Ich könnte eine Geschichte erzählen, dass ich eine tolle Partie abgeliefert habe, das stimmt aber nicht. Eher fiel mir ein glückliches Endspiel nach vielen Verwirrungen in den Schoß, und berechnet hatte ich gleich gar nichts. Der Königsinder war mir nach wenigen Züge schon vollkommen unbekannt, so geht es mir immer in dieser Eröffnung. Ich habe im August 1982 das blaue Buch von Geller geschenkt bekommen, es im September des selben Jahres auswendig gelernt und seitdem, also ab dem ersten Oktober 82, komplett wieder vergessen, jeden Tag ein bisschen mehr. Wie auch immer, ich brachte die b-Linie unter meine Kontrolle, hätte mit Hurra einmarschieren und dutzende Agrarökonomen einkassieren können – und wäre am bitteren Ende auf der anderen Seite des Brettes elend mattgesetzt worden. Das berechnete ich mir so, ward darob durchaus betrübt und ruderte zurück, was das Zeug hielt.
So gelang es mir, den Laden einigermaßen zusammenzuhalten, während Koko gewann und Uwe verlor und Patrick seine Stellung weiter verbesserte und bei Marko niemand wusste, wer hier eigentlich auf Sieg stand. Beide hatten sie den König des Gegners an den … Schlafittchen, aber niemand ging matt und Eduardo musste festellen, dass zwei Leichte doch stärker sind als ein Turm. Es stand nunmehr 2,5 : 1,5 und die Oma im Foyer war von einer freundlichen Person in weißem Kittel wegbegleitet worden.
Wenn ich mich recht erinnere, trat nun eines der Gesetze von Murphy in Aktion, und zwar: Hast du dich am Königsflügel erfolgreich verteidigt, geht dir der Damenflügel baden. Kann man denn ahnen, dass eine Dame, die die ganze Zeit auf h3 schielt, plötzlich über a4 einreitet?! Klar, wenn sie auf d7 steht, geht das, aber ich erlebe solche unfairen Richtungswechsel immer wie aus heiterem Himmel. Mein Turm schaute derweil auf der b-Linie in die Röhre. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als Damentausch-Damentausch und damit indirekt Remis anzubieten, wobei das Endspiel gar nicht soo gut ausgesehen hätte. Aber mein Gegner war mein Glück, er wollte gewinnen und verbrauchte Zeit und Zeit – und übersah, dass auch er eine klitzekleine Schwäche auf g6 hatte. Während er zunehmend von seinen Bonus-Sekunden gehetzt wurde, programmierte ich das Feld g6 in mein automatisches Kanonenfernlenksystem ein und brachte Dame und Läufer entsprechend in Stellung. Blöd für Schwarz, dass ungleiche Läufer herrschten, so dass er praktisch mit einer Figur weniger verteidigen musste und langsam aber sicher in Zugzwang geriet.
Eduardo hatte unterdessen mit einem Turm gegen drei Leichte zu kämpfen, was dann doch zu viel war. Irgendwann in diesen letzten Zügen hing Marko vollständig in den Seilen, und ich glaube, er gab nur deshalb nicht auf, weil durchs Aufgeben noch nie eine Partie gewonnen wurde, aber plötzlich schoss der Weiße einen Riesenbock, und statt mattzusetzen, wie ich berechnete, stellte er die Dame ein. Na toll. Super!! Er war ganz ungehalten, und Marko war es ganz peinlich, aber es stand damit 3,5 : 2,5 für uns.
Während Patrick weiter daran herumrechnete, ob sein f7-Freibauer oder der schwarze d3-Freibauer besser war, stellte er seinen c4-Mann ein und musste nun ums Remis bangen. Ich war jetzt ganz ruhig, konnte Damentausch erzwingen, hatte eine halbwegs mobile Bauernmehrheit am Königsflügel gegen einen blockierten e-Bauern, schob meinen Turm endlich bis b8 und hatte kurz darauf gewonnen: Damit war der Mannschaftssieg in trockenen Tüchern; juhuu. Etwas gekniffen schauten sie schon drein, die Mannen von Lasker, aber der Zufall spielt mal so, mal so, und das Glück hat nur vorn eine Locke und hinten eine Glatze, wie Kurt Richter bildungsbeflissen gesagt hätte: Wenn du es nicht bei der Locke greifst, rutschen dir die Hände an der Glatze ab.
Später, ich hatte mich auf den Weg nach Hause gemacht und festgestellt, dass der Flohmarkt auf dem Hermann-Ehlers-Platz kaum Nennenswertes zu bieten hat, sah ich im Internet, dass Patrick einen weiteren halben Sieg beigesteuert hat, und deshalb haben wir mit 5:3 Toren gewonnen. Logisch war das nicht und verdient noch weniger. Aber die Oma hat so verschmitzt geguckt, vielleicht weiß sie, woran es gelegen hat, dass wir diese Punkte nach Spandau mitnehmen konnten.
Toller Bericht! So von der Sorte, wegen der man sich immer auf das nächste Chessy gefreut, hat als es das noch gab … 🙁
Also atmosphärischer und unterhaltsamer ist das Treiben an einem Mannschaftstagschach kaum zusammenzufassen. Das Erscheinen der Oma wie die „Dame in Weiß“ in einem englischen Schauerroman und das Sortieren von Eröffnungen nach Tapferkeitsgraden setzen Meilensteine für ein zukünftige BMMberichtsliteratur.
Der blauen Geller hatte ich mir damals auch zugelegt ,um von Grünfeld („grün“) auf Königsindisch zu wechseln .Ein Prozeß, der noch nicht abgeschlossen scheint….